Artikel für mondial, das Journal für interkulturelle Perspektiven

Geflüchtete Menschen – Richten wir den Fokus auf Potenziale und Chancen!

Deutschland im Jahr 1992. In Roststock-Lichtenhagen brennt eine Asylunterkunft. Eine johlende Menge klatscht, während drinnen Menschen versuchen ihr Leben zu retten. In Mölln werden auf die Häuser zweier türkischer Familien Brandanschläge verübt. Ein Jahr zuvor kam es in Hoyerswerda zu tagelangen pogromartigen Angriffen auf Asylbewerber_innen. Die rassistischen Gewaltausbrüche haben sich in unser kollektives Gedächtnis eingegraben. Im Sommer 1991 machten Spiegel, FAZ und andere Medien den rechtspopulistischen Slogan „Das Boot ist voll“ salonfähig. In der Politik war vielfach von „Asylmissbrauch“ die Rede. Gleichzeitig erlebte Deutschland den höchsten Zustrom an geflüchteten Menschen. Und heute?

Heute sind so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr – weltweit über 50 Millionen Menschen laut UNHCR. Auch heute brennen – so schlimm das ist – Asylbewerberheime. Es gibt auch heute Ressentiments und Gewalt. Doch im Gegensatz zum Jahr 1992 wird
von der Mehrheitsgesellschaft, Politik und Medien bis auf einige Ausnahmen, keine Stimmung gegen Migrant_innen gemacht. Den Slogan „das Boot ist voll“ nehmen höchstens noch Pegida, NPD und Teile der AfD in den Mund. An Schulen werden „Willkommensklassen“ eingerichtet, Kurzfristig werden Mittel für Projekte zur besseren Integration der zu uns kommenden Menschen zur Verfügung gestellt und seit dem Herbst 2014 dürfen Asylsuchende ab dem 4 Monat ihres Aufenthaltes in Deutschland sogar arbeiten (allerdings erst nach 15 Monaten ohne Vorrangprüfung).

„Flüchtlinge“ und „Arbeiten“ – noch zu Beginn des Jahres 2014 war hiervon keine Rede, wieder im politischen, noch im gesellschaftlich-medialen Diskurs.
Hat sich etwas im Laufe der Zeit geändert in der Wahrnehmung der Menschen, die zu uns fliehen und im Umgang mit ihnen? Gibt es so etwas wie eine verhaltene Zustimmung für Einwanderung und Einwanderungspolitik? Sind wir in Deutschland toleranter und (Welt-)offener geworden, sodass wir geflüchteten Menschen mit mehr Respekt und Zutrauen begegnen?

Wenn das so ist, dann verwundert es umso mehr, dass wir geflüchtete Menschen in erster Linie als Träger von Defiziten wahrnehmen. Schon das Wort Flüchtling hat eine unverkennbar negative Konnotation, so wie die Wörter Fremdling, Neuling, Sonderling. Ausländerfeindliche Bewegungen wie Pegida oder rechtsextreme Strömungen zeigen, dass geflüchtete Menschen von einem Teil unserer Gesellschaft nach wie vor in einem hohen Ausmaß als Bedrohung und finanzielle Belastung wahrgenommen werden.

Was häufig nicht beachtet und von fehlenden Sprachkenntnissen verdeckt wird, ist das enorme Potenzial welches die Zufluchtsuchenden mit sich bringen: Zwei Drittel der Asylbewerber_innen sind im erwerbsfähigen Alter und viele haben qualifizierende Abschlüsse (Thränhardt, 2015). Sie verfügen über eine hohe Leistungsmotivation, möchten gerne hier arbeiten und sich mehr in die Gesellschaft einbringen. Sie sind Menschen mit persönlichen Begabungen, spezifischen Vorkenntnissen und fachlichem Wissen.

Gleichzeitig ist die gesellschaftliche Entwicklung in vielen Teilen Deutschlands geprägt vom demografischen Wandel, unbesetzten Ausbildungsplätzen und einem zunehmenden Mangel an Fachkräften, vor allem in technischen Berufen sowie in der Gesundheits- und Pflegebranche (Bundesagentur für Arbeit, 2015). In Deutschland erlernen so wenige Jugendliche einen Beruf wie seit Jahrzehnten nicht und damit die
Bevölkerung nicht schrumpft bräuchten wir jährlich 450- bis 500.000 Einwanderer (Statistische Bundesamt, 2015). Die Boston Consulting Group prognostiziert für das Jahr 2030 einen Arbeitskräftemangel zwischen 5,8 und 7,7, Millionen.

Wieso sehen wir die vielen Asylsuchenden in Deutschland nicht als Chance und Potenzial an, als Menschen, die unsere Arbeitswelt bereichern können? Neben den Sprachbarrieren und fehlenden oder nicht anerkannten Abschlüssen liegen die Hürden hierfür vor allem in der deutschen Asylpolitik, welche mit einer Flut von Statuskombinationen für Asylsuchende, administrativen Hürden, langwierige Bearbeitungsverfahren, Arbeitsverbot und der Residenzpflicht den Geflüchteten jegliche Perspektive raubt. Je nach Status gilt eine andere Regelung, ist eine andere Behörde zuständig. Ende April 2015 lagen so 209.700 unbearbeitete Aufträge vor (BAMF, 2015).
Damit beide Seiten – Deutsche und Asylbewerber – voneinander profitieren können, sollten bei jedem Geflüchteten, egal weshalb er seine Heimat verlassen hat, so früh wie möglich die beruflichen und fachlichen Fähigkeiten ermittelt werden. Er erhält eine Arbeitserlaubnis, umgehend Deutschunterricht und wird, wenn nötig, beruflich weiterqualifiziert. Auch kann es in vielen Fällen lohnend sein, sie oder ihn bei der eigenen wirtschaftlichen Entfaltung zu unterstützen. Die Selbständigkeit dürfte für viele geflüchtete Menschen die beste aller Jobmöglichkeiten sein: Nichts wirkt so integrierend wie Arbeit, nichts so motivierend wie ein eigenes Projekt, und für den Spracherwerb ist nichts so anspornend wie ein klares Ziel.
Doch dafür müssen wir aufhören, den Fokus auf die Defizite der Menschen zu legen, die zu uns kommen und uns stattdessen fragen, wie wir ihre Potenziale am besten in unsere Gesellschaft einbringen können. Denn klar ist, Deutschland wird älter. In nur wenigen Jahrzehnten werden wir froh sein, wenn wir jetzt und heute die richtigen Weichen für die Zukunft gestellt haben.
Quellen:
Bundesagentur für Arbeit. (2014) Der Arbeitsmarkt in Deutschland – Fachkräfteengpassanalyse. Nürnberg: Bundesagentur für Arbeit.

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. (2015). Aktuelle Zahlen zu Asyl Ausgabe April 2015.Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. (2015). Asylgeschäftsstatistik für den Monat April 2015. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Strack, R., Baier, J., Keupp, D., Renz, A., Rietschel, C. (2015). Die halbierte Generation. Die Entwicklung des Arbeitsmarktes und ihre Folgen für das Wirtschaftswachstum in Deutschland. Düsseldorf, München, Hamburg: The Boston Consulting Group.

Thränhardt, D. (2015). Die Arbeitsintegration von Flüchtlingen in Deutschland. Humanität, Effektivität, Selbstbestimmung. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.

Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2015). IAB Forschungsbericht. 3/2015 Aktuelle Ergebnisse aus der Projektarbeit, Early Intervention – Modellprojekt zur frühzeitigen Arbeitsmarktintegration von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern. Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert